Gerichtssaal

Umfrage unter praktizierenden akkreditierten Gerichtsdolmetscher:innen

01.09.2023

An der von Silvia Cerrella Bauer, akkreditierte Gerichtsdolmetscherin beim Obergericht des Kantons Zürich, im Mai und Juni 2023 durchgeführten Umfrage nahmen rund 30 akkreditierte Gerichtsdolmetscher:innen aus den deutschsprachigen Kantonen teil. Die Anonymität der Teilnehmenden ist gewährleistet.

Ziel war es, die berufliche Situation in der Schweiz und die Perspektiven des Berufes aus der Sicht der praktizierenden akkreditierten Gerichtsdolmetscher:innen in unserem Land darzustellen.

Blatt mit Umfrageergebnissen

An der Umfrage nahmen erfahrene akkreditierte Dolmetscher:innen teil, die gut über die ganze Deutschschweiz verteilt sind und verschiedene Sprachkombinationen abdecken. Durch die Umfrage konnten qualitative Daten gesammelt werden, die einen guten Überblick über die Situation in der Schweiz geben.

Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

Umfang der Arbeit

  • 50 % der Gerichtsdolmetscher:innen haben im Durchschnitt weniger als zehn Einsätze pro Monat bei verschiedenen Behörden (an erster Stelle bei Gerichten, gefolgt von Staatsanwaltschaften und Polizei sowie anderen Stellen wie Zivilstandsämtern, Friedensrichterämtern und Anwaltskanzleien), während nur ca. 15 % mehr als 50 Einsätze pro Monat absolvieren.
  • 50 % der befragten Gerichtsdolmetscher:innen können von ihrer Tätigkeit nicht leben.
  • 72 % sind in der Lage, auch (sehr) kurzfristige Aufträge anzunehmen.

Arbeitsbedingungen

  • Rund 60 % der Befragten sind der Meinung, dass diese Arbeit nicht angemessen entlohnt wird, während 40 % die gegenteilige Meinung vertreten.
  • Hingegen sind 80 % mit der Zusammenarbeit mit den Behörden zufrieden.
  • 47 % finden die Arbeit abwechslungsreich und schätzen die Flexibilität und Vielseitigkeit dieses Berufes.
  • Als Nachteil nennen 35,4 % der Befragten vor allem die geringe Bezahlung. Schliesslich sehen 23,5% keine nennenswerten Schwierigkeiten. Weitere 23,5% haben Schwierigkeiten mit: 1) Unfreundlichkeit, 2) anspruchsvollen Teilnehmern, 3) Leistungsdruck, 4) Schwierigkeiten, sich innerlich abzugrenzen.

Arbeitstechnik

Fast 77 % der Befragten gaben an, dass sie beim Konsekutivdolmetschen die Notizentechnik verwenden, während nur 23 % diese Technik nicht anwenden (weil sie sie nicht gelernt haben oder weil sie mit anderen/eigenen Methoden vertrauter sind).

Verfügbarkeit von Dolmetscher:innen

  • Obwohl sie keinen Zugang zu Statistiken haben, sind 67 % der Befragten der Meinung, dass die Behörden in der Lage sind, kurzfristig eine:n geeignete:n Dolmetscher:in für ihre Sprache zu finden, was auf eine hohe Zahl akkreditierter Dolmetscher:innen für die gängigsten Sprachen hindeutet.
  • Für Sprachen wie Tigrinya, Vietnamesisch, Somali, Norwegisch sowie für einige weitere afrikanische Sprachen (auch aus der Maghreb-Region) sind fast 95 % der Befragten der Meinung, dass es für die Behörden schwierig ist, kurzfristig eine:n Dolmetscher:in zu finden.

Neue Technologien Audio- und Videodolmetschen

  • 89 % der Befragten glauben, dass neue Technologien ihre Arbeitsweise in den nächsten fünf Jahren verändern werden.
  • Ebenso viele glauben, dass die Behörden in Zukunft Technologien wie Audiodolmetschen für das Ferndolmetschen im juristischen Bereich einsetzen werden.
  • 11 % der Befragten teilen diese Meinung nicht, und zwar aus folgenden Gründen:
    • Datenschutz
    • Die Audioqualität kann zu Missverständnissen führen oder die Qualität der Verdolmetschung beeinträchtigen.
  • Für diese 11 % ist der Einsatz solcher Technologien nur in bestimmten polizeilichen Situationen (z. B. Verkehrsdelikte), die nicht sehr vertraulich sind, und bei Gesprächen mit Inhaftierten, in denen keine Verfahrensdetails besprochen werden, denkbar.
  • Diejenigen, die eine Umsetzung für möglich halten, gehen jedoch davon aus, dass dies:
    • noch dauern könnte, da die gesetzliche Regelung noch lange auf sich warten lassen wird;
    • schon jetzt bei polizeilichen Einvernahmen nach Unfällen / in Bagatellfällen sowie bei Gesprächen zwischen Anwalt und Mandant in der Justizvollzugsanstalt praktiziert wird, da es für beide Seiten eine erhebliche Zeitersparnis bedeutet;
    • zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung sowie beim Einsatz von Dolmetscher:innen für seltene Sprachen geschehen wird.
  • Fast 60 % der Befragten glauben, dass die Behörden in Zukunft Technologien wie Videodolmetschen für das Ferndolmetschen in rechtlichen Angelegenheiten einsetzen werden.

Neue Technologien – Künstliche Intelligenz

  • 57 % der Befragten glauben, dass künstliche Intelligenz die derzeitigen Arbeitsbedingungen (Häufigkeit und Anzahl der Einsätze, Tarife) für Gerichtsdolmetscher:innen verändern könnte, gegenüber 43 %, die die gegenteilige Meinung vertreten. In dieser Hinsicht sind die Meinungen ausgeglichen, ebenso in Bezug auf die möglichen Folgen:
    • allgemeine Verschlechterung des Berufs
    • enorme Unterschätzung der Bedeutung des menschlichen Faktors in diesem Beruf
  • Gründe, die diese Tendenz verlangsamen könnten, sind:
    • die Gewährleistung des Datenschutzes;
    • die Tatsache, dass diese Instrumente noch nicht genau und zuverlässig sind und die Vertraulichkeit noch nicht gewährleistet ist.
  • Nur 45 % der Dolmetscher:innen würden unter der Voraussetzung, dass die Vertraulichkeit gewährleistet ist, oder in Szenarien, in denen dies zulässig ist, automatische Spracherkennungsprogramme, die den gesprochenen Inhalt sofort transkribieren, zur Unterstützung ihres Konsekutivdolmetschens in juristischen Situationen verwenden.
  • Die Instrumente der KI, die nach Meinung der Befragten die Arbeitsbedingungen und -methoden von Gerichtsdolmetscher:innen am ehesten verändern werden, sind:
    • eine Kombination aus Sprache-zu-Text und Text-zu-Sprache (50 %)
    • Sprache-zu-Text (25%)

Entwicklung der Berufes in der Schweiz in den nächsten fünf Jahren

  • Die Mehrheit der Befragten (95 %) glaubt nicht, dass sich der Beruf des Gerichtsdolmetschers in der Schweiz in den nächsten fünf Jahren grundlegend verändern wird.
  • Folgende Gründe wurden genannt:
    • Das System funktioniert derzeit sehr gut.
    • Gesetzliche Regelungen dauern immer sehr lange.
    • Qualifikationen werden wichtig bleiben.
    • In der Schweiz geht alles sehr langsam («Die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam»), so dass sich in so kurzer Zeit kaum etwas grundlegend ändern wird. Vielleicht in den nächsten zehn Jahren.
    • Das Gesetz schreibt vor, wozu ein:e Gerichtsdolmetscher:in verpflichtet ist und dass er oder sie zuverlässig und wahrheitsgetreu dolmetschen muss. Das kann keine künstliche Intelligenz leisten.
  • Tatsächlich sind 95 % der Befragten keine Fälle bekannt, in denen die Sprache-zu-Text-Technologie im Gerichtsdolmetschen in der Schweiz bereits eingesetzt wird. Dementsprechend glauben auch fast 70 % der Befragten nicht, dass die Sprache-zu-Text-Technologie, auch in Kombination mit Text-zu-Sprache-Software, in den nächsten Jahren in der Schweiz im Bereich des Gerichtsdolmetschens zum Einsatz kommen wird. In diesem Zusammenhang wurden folgende Überlegungen geäussert:
    • Es wäre einen Versuch wert. Die Transkription könnte schneller gehen, wenn nicht alles noch einmal gelesen werden müsste, um sicherzustellen, dass keine Fehler im Text sind. Die Spracherkennung könnte ein Problem darstellen, da immer wieder ein:e neue:r Dolmetscher:in eingesetzt wird. Die Frage ist eher, ob sich das Spracherkennungsprogramm schnell anpassen kann. Diese Programme brauchen Zeit, um sich an eine Stimme zu gewöhnen.
    • Ich habe vor einigen Monaten bei einem internationalen Verfahren gedolmetscht, bei dem eine «Court Reporterin» mitgeschrieben hat. Teilweise hat das gut geklappt, teilweise nicht, und dann hatte man, wenn man sich nicht auf die eigenen Notizen konzentriert hat, überhaupt keine Dolmetschgrundlage. Die Spracherkennung müsste schon perfekt und sehr zuverlässig sein, um nützlich zu sein.
    • Noch sehr unausgereift in meiner Sprachkombination.
    • Transkription ja, da sie sehr zeitsparend ist, aber es muss trotzdem kontrolliert werden, ob die Transkription korrekt ist.
    • Es erleichtert das Dolmetschen, vor allem bei längeren Abschnitten und wenn konsekutiv gedolmetscht wird. Es unterstützt die Notizentechnik bzw. den Dolmetschprozess.
    • Ich bin eher skeptisch, ob es bald einwandfrei funktioniert; solange es nicht sehr gut funktioniert, würde es mich in meiner Arbeit und Konzentration eher stören.
  • 62 % der Befragten denken, dass der Beruf des/der akkreditierten Gerichtsdolmetscher:in auch in Zukunft den Stellenwert haben wird, den er heute hat, und dass dieselben Arbeitsbedingungen bestehen bleiben werden.
  • Als Gründe wurden genannt:
    • Gerichtsdolmetscher:innen sind unersetzlich. Aber wir müssen auch mit der Zeit gehen und uns an neue Bedingungen oder Anforderungen der Behörden anpassen. Früher war es unmöglich, bei kleineren Verkehrsdelikten per Telefon zu dolmetschen. Heute wird dies regelmässig praktiziert.
    • Agenturen werden bereits heute eingesetzt. Warum nicht bald auch KI?
    • Ich bin mir nicht sicher, welche Veränderungen es geben wird, aber es wird welche geben, je nach technologischem Fortschritt. Ich gehe davon aus, dass GD auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden, um eine effektive Kommunikation in Gerichtsverfahren zu gewährleisten.
    • Bezüglich der Anerkennung (Gebühren) bezweifle ich eine Verbesserung.
    • Unabhängig vom Einsatz von KI ist klar, dass immer ein professioneller Dolmetscher anwesend sein muss, wenn Fehler jeglicher Art schwerwiegende Folgen haben könnten, z. B. in einem Verfahren. Man kann sich nie hundertprozentig auf solche Werkzeuge verlassen.
  • 62 % der Befragten glauben auch nicht, dass die Behörden die Zusammenarbeit mit einzelnen Dolmetscher:innen einstellen und stattdessen mit Anbietern von Audio-/Videodolmetschplattformen zusammenarbeiten werden, z. B. um Kosten zu sparen. Angegebene Gründe:
    • NEIN: Wegen der Schweigepflicht. Jeder einzelne Dolmetscher wird von den Behörden überprüft, auf Leumund, Sprachkenntnisse etc. Dies einer Plattform zu überlassen, wäre nicht im Sinne des Gesetzes und der Behörden.
    • NEIN: Wegen Datenschutz
    • NEIN: Die Zusammenarbeit mit Dolmetschern wird nicht eingestellt, aber eventuell zugunsten der Nutzung von Plattformen reduziert. Wie es bereits in Deutschland der Fall ist.
    • NEIN: Ich glaube nicht, dass die zentralen Behörden, die ein Aufnahmeverfahren selbst entwickelt haben und es unter ihrer Kontrolle haben, die Auswahl der Dolmetscherressourcen delegieren würden. Ich glaube eher, dass sie sich die Möglichkeit offenhalten würden, das Tool zu nutzen, aber weiterhin auf Dolmetscher zurückgreifen würden, die sie kennen.

Fazit: Das Gerichtsdolmetschen bietet nach wie vor eine attraktive berufliche Perspektive in einer Zeit, in der die KI-Technologien immer weiter voranschreiten.

Laut den in der Schweiz praktizierenden und von den Schweizer Justizbehörden akkreditierten Gerichtsdolmetscher:innen werden die KI-Technologien die Bedingungen für den Beruf des Gerichtsdolmetschens in unserem Land mittel- und langfristig verändern. Es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass dieser Beruf auch in Zukunft interessante berufliche Perspektiven bieten wird:

  • Restriktiver Einsatz von KI in der Justiz: Es ist bekannt, dass die Justiz sehr restriktiv mit dem Einsatz von KI-Instrumenten umgeht. Insbesondere bei Verfahren, in denen eine präzise und verlässliche Kommunikation von höchster Bedeutung ist, werden menschliche Dolmetscher:innen unerlässlich bleiben. Diese Lücke bietet Raum für erfahrene (akkreditierte) Gerichtsdolmetscher:innen, die mit den Nuancen der Sprache und Kultur vertraut sind.
  • Vor-Ort-Dolmetschen als gesetzliche Vorgabe: In vielen Ländern ist der Einsatz von Gerichtsdolmetscher:innen in Gerichtsverfahren gesetzlich vorgeschrieben. Dies macht deutlich, dass die persönliche Anwesenheit, die Deutung von Stimmung und Tonfall sowie die Gewährleistung einer reibungslosen Kommunikation durch menschliche Dolmetscher:innen unersetzlich sind. Darüber hinaus trägt das Dolmetschen vor Ort zum Schutz des Amtsgeheimnisses bei, da vertrauliche Informationen nicht über digitale Kanäle übermittelt werden.
  • Behördliche Kontrolle und Steuerung: In Ländern wie der Schweiz legen die Behörden grossen Wert darauf, die Kontrolle über die zugelassenen professionellen Dolmetscher:innen zu haben. In einigen Kantonen bestimmen und verwalten sie die Aufnahme- und Akkreditierungsprozesse der Gerichtsdolmetscher:innen. Dies spiegelt die Notwendigkeit wider, Vertrauen, Qualität und Sicherheit in Gerichtsverfahren zu gewährleisten. Menschliche Dolmetscher:innen können diese Anforderungen erfüllen und eine verlässliche Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen bilden.

Die Rolle der Gerichtsdolmetscher:innen bei uns bleibt somit trotz des technologischen Fortschritts ein wesentlicher Bestandteil des Justizsystems. Die Fähigkeit, sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden, ist und bleibt unverzichtbar – eine aufstrebende berufliche Perspektive in der dynamischen Welt der Rechtsprechung.